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Richard Roth:
In den Werkstätten. Leipzig 1894.
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Direktverlag Inkognito
Wie ich herausgefunden habe, bezeichnet das Wort "Verleger" ursprünglich einen Unternehmer, der mit den Kosten für die Veröffentlichung einer Schrift "in Vorlage geht", also die erforderlichen finanziellen Mittel vorstreckt. Wenn ein Mensch, statt einem Beruf nachzugehen, zu Hause oder im Kaffeehaus oder auf der grünen Wiese sitzt und schreibt, kann er die Umsetzung seiner Schrift in eine publizierbare Form (z. B. in ein gebundenes Buch) kaum selbst bezahlen, es sein denn er ist reich oder hat reiche Gönner.
Im Zeitalter von Computer und Broschürendruck ist das Herstellen eines überzeugend "echt" wirkenden Buches keine Hexerei mehr. Praktisch jede/r kann ohne allzu großen Aufwand wenigstens ein Exemplar ihres/seines Textes herstellen. Dieses Buch kann man sich dann stolz zu Hause ins Regal stellen, zwischen die "echten" Bücher, und man merkt kaum den Unterschied. Man kann es auch anderen zum Lesen borgen; oder verschenken. Man kann es sogar verkaufen. Wenn man einen Käufer findet. Die Mühe, die man hatte, wäre allerdings mit 20 € kaum abgegolten.
Solange nur Einzelexemplare selbst gefertigter Bücher von Hand zu Hand gehen, handelt es sich eigentlich nur um (zugegebenermaßen etwas umfangreich geratene...) Briefe. Jedem steht es frei, solche Briefe zu schreiben und einem Empfänger zukommen zu lassen.  Zu Literatur wird ein solcher Text allerdings dann, wenn er veröffentlicht wird, wenn also der Text offen angeboten wird und von jedem gelesen werden kann. In diesem Fall macht der Autor den Text publik, und er weiß nicht, wer seinen Text liest, er hat darüber keine Kontrolle mehr. Der Leser bleibt inkognito.
Dieser Schritt hat weitreichende rechtliche Folgen. Würde nämlich in einem solchen Text eine real existierende Person verächtlich gemacht, herabgewürdigt oder auf irgendeine Weise beleidigt und gekränkt, oder würden ihr z. B. Straftaten unterstellt; so geschähe das in der Öffentlichkeit, und die betroffene Person könnte Klage erheben wegen des Verdachts auf Ehrbeleidung oder Verleumdung (was ja auch tatsächlich gelegentlich vorkommt). Das Buch müßte dann, im Falle einer entsprechenden gerichtlichen Entscheidung, aus der Öffentlichkeit entfernt und gegebenenfalls Wiedergutmachung geleistet werden.
Sicher liegt es den meisten Autoren fern, jemanden zu beleidigen. Aber nachdem ein Verlag bei der Publikation eines Werkes Auslagen hat, muß er sicherstellen, dass das Buch verkauft werden kann und er nicht aus rechtlichen Gründen darauf sitzen bleibt. Deshalb beschäftigen Verlage Lektoren, die einen neuen Text beurteilen, hinsichtlich des zu erwartenden Verkaufserfolgs (inklusive etwaiger juristischer Komplikationen). Sind jedoch die Veröffentlichungskosten verschwindend gering, so liegt das rechtliche Risiko ausschließlich beim Autor, denn durch eine etwaige Beschlagnahmung eines Einzelexemplars entstünden dem Verlag ja keine nennenswerten materiellen Verluste.
Die Einsicht, dass moderne Produktionsmethoden den verlegerischen Aufwand dramatisch minimieren, vor allem wenn es nur um die Herstellung von Einzelstücken geht, hat bei mir zur Idee eines "Direktverlags" geführt. Alles, was ein solcher Direktverlag potentiellen Autoren bieten soll, wäre ein Drucker (inklusive Papier und Farbpatronen natürlich); Nadel & Faden; Leinen & Buchbinderleim; und Zugang zu einer (ziemlich teure) Schneidemaschine. Außerdem sollte ein Ort angeboten werden, an dem sich potentielle Kunden einfinden und wo die angefertigten Einzelwerke gelesen und gekauft werden können.
Dieser Verlag könnte sich also in einem ebenerdigen Lokal einrichten, mit Sitzgelegenheiten, Bücherregalen, der oben erwähnten handwerklichen Ausstattung, und einem Getränkeautomaten, um Labung für Leser und Autoren bereitzuhalten. Jeder, der einen Text publizieren will, kann ihn in diesem Lokal - nach ein paar einfachen Instruktionen - drucken, binden, leimen, schneiden, und ins Regal stellen. Ich würde das sogar ohne Angabe des Autorennamen tun und zur Kennzeichnung nur einen Buchstabencode auf den Buchrücken schreiben.
Dem Direktverlag wäre der Autorenname natürlich bekannt; er führt Buch und wüßte genau, wie man ihn erreicht. Alle Einzelexemplare würde ich den Gästen zur freien Lektüre anbieten. Mitnehmen darf man ein solches Buch aber nur, wenn man es kauft (um einen ziemlich hohen Preis, z.B. 100 €); dann darf man es behalten, solange man will. Man kann es auch jederzeit wiederbringen und erhält dann den Großteil des Kaufpreises zurück (z.B. 90%). Dafür, das Buch zu Hause in aller Ruhe lesen zu können, hätte man dann nicht mehr bezahlt als für einen Kinobesuch. Das Geld würde zu 100% der Autor erhalten. Um Diebstahl zu verhindern, könnte jedes Buch mit einer leichten Kette gesichert werden (lieber so als elektronisch).
Der Direktverlag hat also nur Ausgaben und erzielt aus dem Verkauf der Bücher keinerlei Einnahmen. Die Ausgaben betreffen vor allem die Kosten für das Lokal (Miete, Betriebskosten, Heizung), aber auch Verbrauchsmittel wie Papier und Druckerpatronen. Die erforderlichen finanziellen Mittel könnten aufgebracht werden, indem ein Verein gegründet wird, z.B. mit dem Namen "Direktverlag Inkognito", der sich zur Aufgabe setzt, gemeinnützig die "direkte Literatur" zu fördern. Jeder Autor kann Mitglied werden und bekommt mit der Mitgliedschaft die Möglichkeit, sein Buch hier anzufertigen und aufzustellen. Einen Teil seiner Einnahmen aus dem Verkauf seiner Bücher muß er dem Verein spenden (z.B. 10%, natürlich nach oben offen).
Den Autoren entstehen also keine Kosten; es wird ihnen aber die Chance geboten, gelesen zu werden; eventuell wird ihr Buch sogar gekauft. Das steht im wohltuenden Gegensatz zu "normalen Büchern", die zwar gekauft aber oft nicht oder nur von einer Person gelesen werden. Das Konzept erinnert an eine Leihbücherei, allerdings mit dem Unterschied, daß man im Lokal des Direktverlags Bücher lesen kann, die es nur einmal gibt, die so gut wie niemand kennt, und die man an Ort und Stelle kaufen kann. Man erfährt außerdem nie den Namen des Autors, kann also nie sicher sein, ob nicht auch einmal ein prominenter Autor sich einen Spaß macht und ein Buch im Lokal placiert...
(7/11)
Fortsetzung